Der wieder erstarkte Club bestand auch auf Giesings Höhen! Zwar haderten mehr als 45 000 Münchner Fußballfreunde mit dem Schicksal, daß just in dieser Begegnung das Glück nicht auf Seiten der „Löwen" stand, doch der Sieg der Nürnberger kam keineswegs nur durch Fortunas Mithilfe zustande. Die „Sechziger" trafen auf einen Gegner, der den längeren Atem hatte. Vermutlich haben sich die „Löwen" in der 1. Halbzeit übernommen. Sie legten ein Tempo vor, daß den Nürnbergern Hören und Sehen verging. Aber diese Spielweise kostete zuviel Kraft und mußte umso mehr ins Auge gehen, als den Münchnern durch nicht alltägliche Gegentreffer der letzte Mumm geraubt wurde.
Der äußere Rahmen des Spiels glich dem eines Ländertreffens. Schon in den frühen Morgenstunden standen viele Fans an den Kassen. Eine Stunde vor Spielbeginn war das Stadion überfüllt. Polizei und Feuerwehr mußten aufgeboten werden, um einen Sturm auf die Stadionpforten zu verhindern.
Viele Nürnberger sahen dem Treffen mit gemischten Gefühlen entgegen. Der Streit um einen Platz in der Bundesliga, die noch immer nicht erfüllten Wünsche der Landeshauptstädter ließen befürchten, daß jene Saat, die von außer Rand und Band geratenen Journalisten gesät wurde, aufgehen könnte.
Ein Kompliment deshalb den „Löwen" und dem Münchner Publikum, die sich davon nicht beeinflussen ließen.
Den „Sechzigern" gehörte die 1. Halbzeit. Vom Anstoß weg diktierten die Gastgeber das Spielgeschehen. Wabra erhielt wiederholt Gelegenheit, Proben seines großen Könnens abzulegen. Aber die energievollen Angriffe der „Weißblauen" verpufften im Endeffekt an der routinierten Clubabwehr.
Erst nach einer Viertelstunde konnte sich der Club etwas frei machen. Doch das Löwentor kam zunächst nicht in Gefahr. Eine Bombe von Morlock zwang Radenkovic erstmals zu einer Parade. Der Münchner Schlußmann konnte zur Ecke abwehren. Das Spiel des Clubsturms blieb in der 1. Halbzeit Stückwerk.
Nach Seitenwechsel wirkten die Nürnberger wie verwandelt. Dennoch klingelte es zunächst in Wabras Gehäuse. Ein Flankenball strich vor das Clubtor, Kohlars verfehlte hechtend das Leder, aber hinter ihm lauerte Brunnenmeier und der Münchner Torjäger köpfte den Ball ins Netz.
Niemand glaubte in diesem Augenblick noch an einen Sieg der Nürnberger. Aber „Radi", seines Zeichens Goalkeeper und Fußballclown der „Löwen", leistete sich 90 Sekunden später einen tollen Scherz. SR Tschenscher ahndete ein Foulspiel mit einem Freistoß. Die Münchner Abwehr und „Radi" waren der Meinung, daß es sich um einen indirekten Freistoß handeln würde. Der Löwen-Schlußmann verließ seinen Kasten und lud Stefan Reisch mit theatralischer Geste zum direkten Schuß ein. Steff nahm die Aufforderung lachend an und setzte den Ball ins Netz. Die Bestürzung der Münchner war unbeschreiblich als der Unparteiische diesen Treffer anerkannte.
Die „Löwen" brachten nunmehr eine härtere Note ins Spiel, doch bald bekannte man sich wieder zum „fair play".
Der Clubsturm kam immer besser in Schwung. Maxl Morlock spielte und dirigierte wie einst im Mai. „Weinrot" war Trumpf! Dennoch schlugen die Münchner noch einmal zu. Der quicklebendige Heiß bezwang Wabra nach einer Flanke von Kohlars. Gegen seinen Flachschuß war kein Kraut gewachsen. Doch dieser Treffer schockierte die Nürnberger keineswegs. Bereits sieben Minuten später fiel der Ausgleich. Dachlauer schoß Steiner an und vom Fuß des Münchner Verteidigers sprang der Ball ins Tor. Der Club war nicht mehr zu bremsen. Der Führungstreffer der „Weinroten" schien zu fallen, als Engler völlig frei vor dem Löwen-Gehäuse aufkreuzte, aber der Clubrechtsaußen vergab diese nie wiederkehrende Chance. Dann traf Engler nach einer großartigen Vorlage von Morlock nur den Balken. Die Nürnberger ließen nicht mehr locker. Reisch und Flachenecker kurbelten unermüdlich das Clubspiel an, Morlock und Strehl kanonierten aus allen Lagen, trotzdem gaben sich die „Sechziger" nicht geschlagen. Ihre Gegenstöße wurden gefährlich, weil der Club offensiv spielen und alles auf eine Karte setzen mußte. Ein Remis hätte den Kampf um den begehrten 2. Tabellenplatz aussichtslos werden lassen. Die Clubabwehr stand deshalb vor schweren Problemen, doch Nandl Wenauer und seine Kameraden wurden allen Aufgaben gerecht. Das Wagnis gelang. In der 85. Minute wollte Peter Engler alle bislang versäumten Gelegenheiten wieder gut machen. Der ExBerliner wurde in aussichtsreicher Position im Strafraum gelegt und Elfmeter-Spezialist Flachenecker verwandelte den zu recht verhängten Strafstoß unhaltbar zum 2:3.
Zwei Minuten später stellte Gustl mit einem seiner gefürchteten Weitschüsse das Endergebnis her.
Die Generalprobe des 1. FCN für Madrid war geglückt, mehr noch, der Club hat mit diesem Sieg die Anwartschaft auf den 2. Tabellenplatz gewahrt. Die Leistung der Nürnberger war in der 2. Halbzeit so überzeugend, daß Trainer Widmayer getrost die gleiche Elf gegen Atletico Madrid aufbieten kann.
PS! Einige Nürnberger Schlachtenbummler saßen nach dem Spiel vergnügt im „Mathäser". Der edle Gerstensaft schmeckte und da stach einen Nürnberger der Hafer. Er fragte laut: „Herrschaft, kann mir denn niemand sag'n, wie heut die „Sechzger" g'spielt hab'n!" Eisiges Schweigen war die Antwort. Der Nürnberger gab nicht nach. Er ging von Tisch zu Tisch, doch vergebens, kein Münchner gab Bescheid. Ein neuer Gast kreuzte auf, der Nürnberger wiederholte seine Frage. Der Gast entgegnete: „4:2 verloren!" Der Mann aus der Noris grinste: „Na, endli der erschte Münchner, der dös über die Lipp'n bringt!" Der Gast lachte noch mehr und sagte: „Ich muß Sie enttäuschen, ich bin von Augsburg!"
A. W.