Der Verlauf dieses Bundesligatreffens ist durch die Berichte der Zeitungen und Fachzeitschriften so bekannt, daß es genügt, sich hier auf grundsätzliche Fragen zu beschränken und sich ausführlicher mit den allgemeinen Problemen zu befassen, wie sie der Verlauf dieses Spiels deutlich machte.
1860 zog von Anfang an den als Linksaußen nominierten Steiner in die Verteidigung zurück, spielte also ein klares Riegelsystem in der Form des 4-2-4. Dieses Spiel mit verstärkter Abwehr bedeutet längst nicht mehr, wie früher einmal, den letzten Rettungsversuch abstiegsgefährdeter Vereine, sondern wird auch von vielen führenden Mannschaften zumindest in Auswärtsspielen praktiziert. Daß man es nicht mit dem Begriff des „Mauerns" abtun kann, zeigte die Begegnung deutlich. Zwar führt diese Konzeption zu einer klaren Feldüberlegenheit des Gegners, die wir von unserer Elf mindestens eine Stunde lang erlebten, in der die Münchner Gäste oft nahezu eingeschnürt wurden. Wenn aber eine Mannschaft mit vier oder oft nur drei Stürmern in Durchbrüchen so gefährlich bleibt, wie es die Münchner waren, kann man von einem unverdienten Punktgewinn nicht sprechen. Unter diesem Aspekt hatten die Gäste das Unentschieden redlich verdient. Wir übersahen dabei nicht, daß beide Münchner Treffer vermeidbar waren. Der Ausrutscher Wenauers, der Brunnenmeier Gelegenheit zum frühzeitigen Führungstreffer gab, war sicherlich auch in Anbetracht der Bodenverhältnisse nicht unvermeidlich (vielleicht auch hätte Ferschl bei schnellerem Schalten noch eingreifen können), und der zweite Münchner Treffer hätte bei einem energischeren Eingreifen des am Gegner befindlichen Wild vermieden werden können.
Der Ausgleichstreffer Müllers in der letzten Minute zeigte aber, wie man sich gegen dieses System der verstärkten Abwehr behaupten könnte, eine Methode, zu der unsere Elf nicht ausreichend fand. Ein Anrennen in der Mitte stößt zwangsläufig auf eine solch dichte Deckung, daß damit nicht oder nur ausnahmsweise durchzukommen ist. Auch der Einsatz der Flügelstürmer reicht meist nicht aus, den Erfolg an sich zu reißen. Denn das System des 4-2-4 bezweckt ja gerade, die Flügel lahmzulegen und den Gegner zu zwingen, im Mittelfeld zu operieren. Vielleicht wäre es also besser gewesen, wenn man die Dribbelkünste vor dem gegnerischen Heiligtum mehr den schußschwächeren Stürmern und den oft genug für den Angriff freien Außenläufern überlassen hätte, und wenn unsere schußkräftigsten Stürmer sich mehr rückwärts gestaffelt und aus größeren Entfernungen geschossen hätten, eine Methode, die deshalb noch als vorteilhafter erscheint, weil doch immer wieder einmal Schüsse durch eine verstärkte Abwehr ungewollt abgefälscht werden. Eine solche „Zurückhaltung" einiger schußkräftiger Angriffsspieler wäre wohl auch geeignet gewesen, die verstärkte gegnerische Abwehr aufzulockern. Schließlich hat das Paßspiel zum eigenen Mann beim verstärkten Abwehrriegel seine Haken. Zweckmäßiger wären wohl - und das sahen wir nicht oft genug - lange Pässe in den freien Raum, mit denen die Abwehrspieler zu dem von ihnen so gefürchteten „Umdrehen" gezwungen werden, mit dem wertvolle Sekundenbruchteile verloren gehen.
Wir verfügen jetzt über zwei durchschlagskräftige Flügelstürmer. Auch bei scharfer Manndeckung sollten sie sich wohl weniger „zwingen" lassen, nach innen zu drängen und so den Andrang in der „Mauerzone" noch zu verstärken. Man zieht dann auch noch die Außenverteidiger nach. Daß man Verteidiger auch „außenherum" umspielen kann und damit die Breite des Spielfeldes besser ausnützt, zeigen so erfolgreiche Beispiele wie etwa die des Stan Matthews oder des brasilianischen Weltmeisterschaftsspielers Garrincha. Man muß den Beton von außen sprengen.
Daß insgesamt der rutschige Boden unsere „spielende" Mannschaft benachteiligte, liegt auf der Hand. Daß unsere Abwehrspieler nicht immer auf peinlich genaue Manndeckung achteten, die bei dem weiträumigen und steilen Angriffsspiel einer riegelnden Mannschaft unerläßlich ist, steht auf einem anderen Blatt.
Jedenfalls darf man heute - auch wenn das eine oder andere kommende Spiel (mehr oder weniger zwangsläufig bei der weithin ausgeglichenen Spielstärke in der Bundesliga und in den Endrunden des Pokals) verloren geht - schon feststellen: Alle vier Neuerwerbungen für diese Spielzeit haben voll eingeschlagen. Es hat diesmal keinen „Fehlkauf" gegeben. Spielstärke, Kampfkraft und Erfolge unserer Mannschaft von heute sind mit der Leistung vor einem Jahr nicht mehr zu vergleichen. Selbstvertrauen und Wissen um die eigene Stärke sind wieder da. Mehr kann man eigentlich in einer solch kurzen Zeitspanne kaum erwarten.
Wenn man dabei herausheben will, daß Ludwig Müller die Umstellung zum Bundesligaformat, dank auch seiner Persönlichkeit, überraschend schnell gelungen ist, dann darf man auch nicht vergessen zu erwähnen, wie sehr Wild an Kondition, Leistungsvermögen, Übersicht, Einsatzfreude und Standfestigkeit gewonnen hat. Was er im Spiel gegen 1860 leistete, war Klasse. Die Zeiten, in denen er eine längere Periode harter Anforderungen nicht durchstand, sind offensichtlich vorbei. Das spricht natürlich auch für die Trainingsarbeit. Um dies noch zu sagen: Wabra mußte weit mehr aus dem Kasten, als es an sich hätte passieren dürfen. Er tat es mit Sicherheit, Energie und Erfolg. Aber die „Feldarbeit" noch dadurch zu verlängern, daß sich ein herausgeeilter Torhüter auf „Schwanzereien" einläßt, das kann auch einmal ins Auge gehen. „Radi" im 60er Tor, der solche Kapriolen diesmal vermied, könnte unserem Roland etwas darüber erzählen.
Daß die 45 000 Zuschauer nach einem alles in allem und in Anbetracht der Bodenverhältnisse sehr guten Spiel befriedigt nachhause gingen, hatte natürlich seinen Grund in erster Linie auch darin, daß die fast unvermeidlich erscheinende Niederlage buchstäblich im letzten Augenblick noch gebannt wurde. Klar, daß allen ein Sieg lieber gewesen wäre. Außer dem Bereich der Möglichkeit lag er nicht. Auch durch einen Doppelstopper, Riegel oder wie immer man die Verstärkung einer Abwehr bezeichnen mag, braucht man sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Man darf sich nur nicht zu sehr in den Knäuel vor dem gegnerischen Tor verstricken lassen. Müllers Ausgleichstreffer kam aus dem Hinterhalt.
Dr. K. Brömse