Als die Clubelf eine gute halbe Stunde vor Spielbeginn im Stadion Bernabeu angelangte, sah es so aus, als ob noch einige Minuten des Spiels bei Tageslicht stattfinden könnten, denn die Sonne versank gerade erst am Horizont. Das Stadion war zu etwa der Hälfte gefüllt, aber ebenso rasch wie sich dann die Zuschauer auf den himmelhohen Rängen einfanden, sanken auch die Schatten auf den grünen Rasen und bei Spielbeginn, Punkt 20.30 Uhr, war es soweit, daß die Flutlichter eingeschaltet werden konnten. Etwa 110.000 Zuschauer sahen das große Spiel, davon ca. 20.000 bewaffnet mit schrillen Pfeifen, die eine findige Industrie säckeweise an die Atletico-Anhänger verkaufte. Eine Generalprobe der Lautstärke wurde mit diesen Pfeifen kurz vor Spielbeginn veranstaltet, als die Offiziellen und Reservespieler des 1. FCN zu ihren Plätzen gingen. Manchem unserer braven Begleiter mag es dabei eiskalt über den Rücken gelaufen sein. Zum Orkan vollends steigerten sich Pfiffe und Schreie, als dann die beiden Mannschaften, der Club ganz in Weiß, Atletico in rotweiß gestreiften Trikots und blauen Hosen, mit Schiedsrichter Huber, dem man in Madrid von vorneherein Clubfreundlichkeit nachsagen wollte, einmarschierten. Dann begann das Spiel, fast pausenlos begleitet von Anfeuerungsstürmen des Publikums, wenn ein Atleticospieler den Ball am Fuß hatte, von Buh-Rufen und Pfeifen, wenn sich der Club im Ballbesitz befand. Man muß wohl lange Jahre Fußballspiele gesehen haben, um sich je einer solchen Atmosphäre zu erinnern, wie sie bei diesem Semifinalspiel in Madrid herrschte.
Unsere Mannschaft hatte die Anweisung erhalten zumindest die ersten 20 Minuten mit zurückgezogenen Halbstürmern defensiv zu spielen, um Überraschungen a la Lissabon zu vermeiden. Erst dann sollte der jeweiligen Situation entsprechend gehandelt werden. Diese Taktik bewährte sich ausgezeichnet, ließ aber natürlich über weite Strecken des Spiels keine fliegenden Angriffsszenen zu, wie sie etwa der Club beim Heimspiel gegen Lissabon in Nürnberg so wunderbar vorgeführt hatte. Manndeckung und Abwehr kennzeichneten daher die ersten Spielphasen, bei denen Atletico schon in der 3. Minute zu einem Eckball von links kam. Diese Gefahr sowie der erste Torschuß des Gegners in der 7. Minute und weitere Angriffe wurden gemeistert. Atletico zeigte von der ersten Minute an die erwartete Härte, wenn auch nicht in der unfairen Art wie in Nürnberg Bereits in der 11. Minute fiel Wabra einer Attacke zum Opfer. Er blieb am Boden liegen und benötigte einige Minuten, um sich etwas zu erholen. Inzwischen inszinierte der Club seinen ersten gefährlichen Gegenangriff, der mit einem Torschuß von Engler abgeschlossen wurde, Madinabeytia hielt reaktionsschnell. Atletico drängte nun energisch, meist aus linker Position, wo der schnelle und trickreiche Collar agierte. Schon in der 13. Minute hätte Atletico nach einem 16-Meter-Schuß des Mittelstürmers Chuzo führen können, wenn nicht Roland Wabra hervorragend abgewehrt hätte. Bei den Atleticospielern machte sich nun in zunehmendem Maße Nervosität bemerkbar, zumal weder ihr „As", der mischblütige Ballkünstler Mendonza, noch der tiefschwarze Rechtsaußen Jones zum Zuge kamen. Mendonza verstand es zwar in einmaliger Weise, den Ball jeweils so zu führen, daß jeder Versuch, ihm das Leder abzunehmen, unmöglich war, er konnte sich aber, mit einer Ausnahme, während des ganzen Spieles nie in Schußposition bringen. Ein Verdienst unseres Stoppers Wenauer, der an diesem Abend seine Aufgabe so hervorragend erfüllte, daß die anwesenden Real-Vorstände sich für ihn zu interessieren begannen.
Kaum hatte unsere Mannschaft gemerkt, daß der Gegner nachzulassen begann, als auch schon einige blitzschnelle Aktionen folgten, die Atletico schwer zu schaffen machten und dem Publikum, für das der Club von vornherein als hoher Verlierer galt, bewiesen, daß das Vorspielergebnis kein Zufall gewesen war. Flachenecker ließ aus vollem Lauf eine seiner 20-Meter-Bomben los, die der Atletico-Schlußmann gerade noch im Fallen entschärfen konnte. Engler wurde jetzt mehr und mehr eingesetzt, was den sattsam bekannten Stopper Griffa zu einem bösen Foul an ihm veranlaßte, das normalerweise zur Hinausstellung hätte führen müssen. Schiedsrichter Huber übersah es großzügig, das Publikum raste vor Begeisterung! Im Gegenzug versuchte Mendonza, meist blitzschnell aus dem Stand schießend, einen Fernschuß auf Wabras Gehäuse, der jedoch gehalten wurde. Wieder lief das Clubspiel. Strehl wurde am laufenden Band gefoult, konnte trotzdem zwei Torschüsse anbringen, die jedoch nicht die nötige Schärfe, bzw. die genaue Richtung hatten.
Das Ende der ersten Halbzeit rückte immer näher, Atletico stürmte mit allen Mannen. Collar wollte immer wieder vom linken Flügel aus das Blatt wenden, Leupold geriet wiederholt hart mit ihm zusammen und wurde schließlich vom Schiedsrichter wegen einer unüberlegten Handlung verwarnt. Trotzdem konnte der Club nochmals eine Ecke erzwingen. Die erste Halbzeit schien gelaufen zu sein, da schlug Leupold den Ball nicht energisch genug nach vorn und fabrizierte einen Ausball etwa 15 m vor der Eckfahne. Der sofortige weite Einwurf von Collar wurde einem in halbrechter Position stehenden Atleticoläufer vor die Füße gespielt. Wabra wollte das Leder im Flug abfangen, doch Jones und Mendonza behinderten den Nürnberger Torhüter, was aber der Schiedsrichter offenbar nicht sah. Der Ball wurde dem 4 Meter vor dem Tor stehenden Mittelstürmer Chuzo ziemlich scharf auf den Kopf gespielt und von dessen Stirn ins linke Toreck gelenkt. Hilpert und Reisch, die das leere Tor bewachten, hatte keine Chance, rettend einzugreifen. Es stand 1:0 und 15 Sekunden später ertönte der Halbzeitpfiff. Nach dem 2:1 in Nürnberg stand die Partie demnach im Gesamtergebnis unentschieden. Noch konnte der Club das Blatt wenden, noch konnte Atletico den Sieg an die Fahne heften. Die Partie wurde dementsprechend lebhaft. Bereits eine Minute nach Halbzeit kam unsere Elf zu einem Eckstoß, zwei Minuten später hatte Wabra einen Torschuß von Chuzo zu halten. Das Spiel wurde härter, auch der brave, schwarze Jones mischte mit. Wild wurde verletzt und ging für einige Zeit auf Rechtsaußen. In der 7. Minute fiel das spielentscheidende 2. Tor. Chuzo und Mendonza spielten sich im Duett das Leder zu. Wenauer wurde durch das raffinierte Pendeln des Balles einen Augenblick getäuscht, Mendonza stoppte den Ball blitzschnell mit dem linken Fuß und trat das Leder aus 16 Metern Entfernung, für Wabra unhaltbar, ins rechte obere Eck.
Atletico hatte nach Wiederanstoß einige Minuten klare Vorteile, zweimal mußte Wabra Torschüsse halten, einmal einen Eckstoß abfangen, dann wurde Strehl einmal mehr von Griffa schwer gefoult und wälzte sich am Boden. Zwei weitere Eckbälle für Atletico folgten, aber unsere Abwehr stand eisern und ließ den Gegner ins Abseits laufen. In den letzten 20 Minuten hatten die Madrilenen ihr Pulver verschossen. Bilder wie in Nürnberg häuften sich. Spieler saßen mit Wadenkrämpfen am Boden, der Torwart zögerte mit dem Abschlag und mußte vom Schiedsrichter verwarnt werden. Das Publikum begann diese Verzögerungsversuche auszupfeifen. Der Club stürmte ununterbrochen. Engler war am rechten Flügel zumeist ungedeckt. Er trug die Hauptlast unserer Flügelangriffe. Wild setzte sich trotz härtester Gegenmaßnahmen mehr und mehr durch. Morlock arbeitete unermüdlich. In den letzten 8 Minuten war dem Club das Glück nicht hold. Morlock feuerte eine Bombe aus kurzer Entfernung ab, Wild schoß fast unhaltbar aus 11 Metern ins linke untere Eck. Beide Schüsse hielt Madinabeytia in einmaliger Weise, ihm verdankt Atletico den Sieg.
Als der Schlußpfiff von Schiedsrichter Huber ertönte, der das Spiel zwar sicher, wenn auch nicht zur letzten Konsequenz bereit, geleitet hatte, brach ein unbeschreiblicher Freudentaumel bei den Zuschauern aus, in den sich aber auch hörbar der Beifall für unsere Mannschaft mischte. Es wurde uns später immer wieder bestätigt, daß man nicht eine so starke Mannschaft erwartet hatte. Außer Wenauer hatte den Madrilenen besonders Reisch durch seine Kaltblütigkeit und Engler durch die Rasanz seiner Läufe imponiert. Wir selbst wissen, daß jeder unserer Mannschaft sein Bestes gegeben und daß der 1. FCN den deutschen Fußball auf dem internationalen Parkett ehrenvoll vertreten hat.
Dr. Braune