In einem guten Spiel kam der sehr agile und kämpferische Heinz Müller auf dem ungewohnten Linksaußenposten 2 mal zu Torehren, damit denen die Kritik in den Hals verschlagend, die seine Aufstellung mit Pfiffen beantworten zu müssen glaubten. Der in der Halbzeit eben eingetretene Bergholtz überrascht umgehend Wabra mit einem Effetball an den Pfosten, von wo er ins Tor rollt. Beer nach Zuspiel von Hansen, Küppers mit einem Bombenschuß und Ludwig Müller, nun schon „pflichtgemäß" auf Flanke Cebinacs besorgen den Rest, Ecken 7:6.
Die südwestliche Vorstadt Anderlecht der Metropole Brüssel bedeutet heute für Belgiens Fußballsport etwa das, was einst für den deutschen die Hochburg Zabo gewesen ist. Fast alle Nationalspieler kommen von dorther. Was Wunder, wenn seit 1963 der RSC Anderlecht fünfmal hintereinander im Europacup der Meister anzutreffen ist. Die Begegnung mit der international hoch eingeschätzten Spitzenelf sollte für unser im September bevorstehendes erstes Europacupspiel gegen Ajax Holland heute einen ebenso wertvollen Kräftemaßstab abgeben, wie sie der Wetzstein zu werden versprach, an dem wir unsere Messer schleifen konnten. Leider ging dabei einiges schief.
Der ursprünglich unter dem italienischen, belgischen und deutschen Meister im Hin- und Rückspiel auszutragenden Rappancup-Runde war mit dem Rücktritt der Italiener nach ihrem zweiten Spiele die Schau gestohlen. Zu allem Unglück goß vor dem Spiel der Himmel zur Unzeit Regen über die Stadt, während das noch menschenleere Stadion trocken blieb. Erst während des Spieles fanden sich etwa 12000 Zuschauer zusammen. Als weiteres Mißgeschick ist zu verzeichnen, daß nach einer Entgleisung der bullige, sehr kampfstarke Läufer Plaskie des Feldes verwiesen wurde. In der entscheidenden halben Stunde wurde daher unsere Mannschaft leider nicht mehr genügend gefordert und nach internationalem Maßstab geprüft.
Trotzdem imponierte - und zwar das ganze Treffen hindurch - Ballarbeit und Angriffsgeist der Gäste. Sie verstärkten durch Austausch ihres Linksaußen und des Mittelstürmers durch neue Leute noch die Gefährlichkeit ihrer Angriffsaktionen recht augenfällig. Was da nunmehr von ihren Flügeln in die Mitte flitzte, besonders von links, war gar zu beklemmend und verlangte von Wabra schon außergewöhnliche Reaktionsschnelligkeit und - Glück, das ihm in der 2. Spielhälfte auch treu blieb. Wankte unsere Abwehr mitunter, der Sturm bot dafür zunehmend klarere Arbeit. Küppers Weitvorlagen an die Flügel imponierten. In ihrer Präzision ließen sie daran denken, wie Hans Kalb einst mit Weitpässen seine „Flügeladjutanten" auf die Reise schickte. Und durchaus nicht nur von Küppers kamen die - seit Jahren doch beschwörend geforderten - ach so schwer zu erlernenden „langen Bälle".
Das sehr beweglich gewordene Spiel der Abwehr seit MM's Reorganisation der Taktik verlangt große Ausdauer und schnelles Spurtvermögen. Es bringt beim Angriff mehr Leute nach vorn, bei der Abwehr geballte Verteidigung in den eigenen Strafraum. Kontert der Gegner in etwa mit ähnlicher Taktik, wird das Spiel offen und wechselvoll, was ja seit langem angestrebt wird. Der Kritiker muß sich nur klar sein, daß dann auch mal, wenn ein Verteidiger stürmen geht, hinten ein Ball ins Netz flitzen kann, dafür wächst vorne die Zahl der Chancen und bei beherzter Schußfreude - auch aus der zweiten Linie! - die Zahl der Tore. So fordern wir's seit Jahren.
Was alte Fußballhasen aufhorchen läßt, ist die von Reportern berichtete Überzeugung des Trainers, daß zum zweiten Mal jetzt eine deutsche Fußball-Meisterschaft - vor allem bei gleichzeitig erstrebtem Erfolg im Europacup - nicht zu erzwingen sei durch ständig auf Höchstspannung gepeitschten Kampfeinsatz. Das hieße die menschliche Leistungsfähigkeit überfordern. Diesmal müsse mit Kunst und Können schöner und klüger gespielt werden, müßten Spielwitz und Spielkultur über bisherige Maßstäbe hinauswachsen. Dazu heiße es. lernen, lernen und wieder lernen!
Daß er seine Ballschule und die taktische Ausbildung darnach ausrichtet, freut die Tribüne nicht minder wie die Trompeter auf den Rängen. Möchten diese doch auch etwas beisteuern zur Hebung des Niveaus in den Fußballstadien, indem sie ihre Phonstärke für dramatische und entscheidende Spielphasen aufsparen und nicht drei Stunden lang in Vor- und Hauptspiel - auch dann wenn es ohne Sinn erscheint - sogar mit Maschinenantrieb, Klamauk machen, daß Spielern und Zuschauern der Verstand zu wackeln beginnt. Ein bißchen Würde sollte dem Fußballspiel schon verbleiben, sonst streiken am Ende gerade die gutgesinnten Fußballinteressenten!
Pelzner